Selbstverständnis


Die Initiative umfasst Mitglieder am Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung und feministisch interessierte Mitarbeiter*innen der Phillips-Universität Marburg.

Anfänglich als Projekt einer wissenschaftlichen E-Zeitschrift geplant, haben wir uns in der Konzeptionsphase angesichts oft kurzer Vertragslaufzeiten und hoher Arbeitsbelastung des Mittelbaus schnell für die flexiblere Variante der Online-Plattform entschieden, die aber auch neue Räume für Vernetzung und Öffentlichkeit bietet.

Was verstehen wir unter Feminismus?
Zum Selbstverständnis des feministischen Plattform Marburg (feMarburg)

FeMarburg will hegemoniale gesellschaftliche, politische und ökonomische Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie soziale Kategorie(sierunge)n kritisch-feministisch hinterfragen und Alternativen andenken und
politisch handlungsfähig bleiben. Vorherrschende Geschlechterhierarchien und vergeschlechtlichte Normen aufzuzeigen und zu durchbrechen ist dabei eines unserer Hauptanliegen.

Wir werden heute noch immer auf Grund der gesellschaftlich platzanweisenden Kategorie „Geschlecht“ und den damit verflochtenen Kategorien wie Race, Class und (Dis)Ability klassifiziert. Diese Identitätszuweisungen und darauf gründende Ausschlussmechanismen legitimieren Ungleichheiten und Benachteiligungen, und verhindern ein selbstbestimmtes Leben und die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe.

Im Rahmen unserer Arbeit und in unserem politischen Engagement sind diese gesellschaftlichen Strukturkategorien sowohl Anknüpfungspunkt als auch Gegenstand der Kritik. Unser feministischer Anspruch, bestehende Verhältnisse zu verändern, richtet sich nicht nur auf die Situation von Frauen*, sondern ist für uns ein gesamtgesellschaftlicher Anspruch. Patriarchale und heteronormative Strukturen schaffen Privilegien und Diskriminierungen, für die eine mehr, für den anderen weniger. Sie stellen jedoch in jedem Fall hierarchische Ungleichheiten her.

Diese gesellschaftlichen Kategorien sind nicht nur verantwortlich für die (Un-)Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe. Sie dringen außerdem bis in die scheinbar individuelle Sphäre unserer Subjekt- und Körpervorstellungen vor. Wie wir uns selbst empfinden und denken, findet sich zum Beispiel wieder in einem vereindeutigenden Unterschied zwischen Mann und Frau, der mitunter biologisch begründet wird. In diesem Zusammenhang ist es unser Anspruch, vermeintliche Wahrheiten wie Heteronormativität oder Zweigeschlechtlichkeit, die strukturell und diskursiv hergestellt werden, nicht zu reproduzieren, sondern sichtbar und damit hinterfragbar sowie gelebte Diversität erfahrbar zu machen.

So sehr wir diese Kategorien auch zurückweisen und aufzubrechen suchen, sind wir doch darauf zurückgeworfen, uns auf sie als Basis unseres Denkens zu beziehen und als Mittel unseres Handelns zu gebrauchen.

Ein Beispiel: feministische Mädchenarbeit kommt nicht darum herum, in ihrer Arbeit die Kategorien ‚Frauen/Mädchen’ beim Namen zu nennen, um Mädchen* zu bemächtigen und Ungleichheitserfahrungen aufzuzeigen. Damit wird die identitätsstiftende Kategorie ‚Frauen/Mädchen’ jedoch auch immer wieder neu hergestellt, während es gleichzeitig Anspruch feministischer Mädchenarbeit ist, dominante Mädchenbilder und Zuschreibungen kritisch zu hinterfragen und Raum für vielfältige Identitifizierungen zu schaffen. Wir bewegen uns folglich in einem Spannungsfeld zwischen Prozessen der (De-)Konstruktion gesellschaftlicher Kategorien sowie Denk- und Handlungsaspekten der Antidiskriminierung. Damit verorten wir uns als feMarburg ganz bewusst in einem „feministischen Paradox“[1].

Gleichzeitig ist es unser Anliegen Herrschaftsverhältnisse intersektional zu denken. Wir gehen davon aus, dass die Erfahrung von vergeschlechtlichten Subjekten von anderen Dimensionen der Subjektivierung geprägt ist, wie „natio-ethno-kulturelle“ und soziale Herkunft, Klassenzugehörigkeit, Alter, sexuelle Orientierung/Begehren, Körper und das Leben mit einer Beeinträchtigung/Behinderung. Es ist uns wichtig, zahlreiche gesellschaftliche Strukturkategorien und Diskrimierungsverhältnisse und deren spezifische Wechselwirkungen sowie Verflechtungen in den Blick zu nehmen.

In der Geschichte wurden Ausgrenzungsmechanismen, die über die gesellschaftliche Strukturkategorie Geschlecht hinaus weisen, immer wieder von feministischen Bewegungen aufgezeigt. Das schloss auch ein, die Ausrichtung feministischer Strömungen selbst zu kritisieren.

In einer ersten Welle gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Fokus von Rechten und bürgerlichen Freiheiten für Frauen in Zentraleuropa von marxistischen Frauen als nicht ausreichend benannt. Vergeschlechtlichte Arbeitsteilung, Reproduktionstätigkeit als Privatsache und ökonomische Grundlagen geschlechtlicher Diskriminierung wurden Teil feministischer Kritik und Kämpfe und fanden Eingang als feministische Analysekategorien. Die feministischen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre in den USA musste sich mit dem Vorwurf Schwarzer Feministinnen auseinandersetzen, ein hegemonialer Weißer Mittelschichtsfeminismus zu sein und damit die Herrschaftsverhältnisse zwischen Weißen und Schwarzen Frauen zu reproduzieren. Die Kritik der Schwarzen FrauenLesben[2] war auch ein Ansatzpunkt im Bundesdeutschen Kontext spätestens seit den 1980er Jahren Diskussionen über die gedankliche Gleichsetzung von Frau = heterosexuell anzustoßen und damit dem Einschluss von FrauenLesben Vorschub zu leisten. Der Ausschluss (der Perspektive) von Frauen mit Behinderungen wurde mit der Auseinandersetzung behinderter Frauen im Rahmen der Krüppelbewegung[3] deutlich.

Solche und andere Interventionen haben die feministische Kritik und Analyse auf produktive Weise vorangetrieben. Wir möchten mit dem Projekt feMarburg dazu beitragen, die kontinuierliche Hinterfragung von Herrschaftsverhältnissen aufrecht zu erhalten und sehen uns in der Tradition jener, die beharrlich für die Berücksichtigung der Strukturkategorien race, class, (dis)ability und Sexualität/Begehren in die feminstischen Theorien und Politiken kämpf(t)en.

Nicht alle aktuellen Entwicklungen von Feminismen tragen allerdings dazu bei, dass ein emanzipatorischer Charakter bestehen bleibt. Insbesondere der neoliberalen Vereinnahmung feministischer Ideen – etwa mit ausschließlichem Fokus auf Karrierechancen einiger weniger Frauen – wollen wir etwas entgegensetzen. Feminismus bleibt nach wie vor ein umkämpftes Feld.

Feminismus, wie wir ihn verstehen, ist ein unabschließbares Projekt, dessen innere und äußere Grenzen immer wieder neu ausgelotet und kritisch reflektiert werden müssen. Von Bedeutung erscheint uns bei diesem Vorhaben die Reflexion der Selbstverortung und ein bewusster Umgang mit der eigenen (Sprecher_*innen-)Position. Auch auf diese Weise lassen sich gesellschaftliche Diskriminierungsmechanismen – nicht zuletzt die eigenen – erkennen und aufbrechen, mit dem Ziel die gesellschaftliche Teilhabe aller selbstbestimmt zu gestalten – mit der Utopie einer anders strukturierten Gesellschaft.

[1]: Wir handhaben das „feministische Paradox“ wie folgt: „Wir nutzen die strukturelle Perspektive für das Erkennen und Kritisieren von Benachteiligungen und Privilegien […] Die dekonstruktive Perspektive wenden wir an, um die Vielfalt, Widersprüchlichkeit, Veränderlichkeit und Brüche gelebter Realitäten wahrzunehmen und zu fördern sowie Normierungen zu irritieren“ (Reader geschlechterreflektierende Bildungsarbeit, DGB 2011, S. 25).

[2]: durch das Combahee River Collective (1982): A Black Feminist Statement. In: Hull, Gloria T.; Scott, Patricia Bell; Smith, Barbara (eds): But Some of Us Are Brave. Black Women’s Studies.

[3]: Ab den 1970er Jahren gründeten sich in Deutschland Krüppelgruppen, die zum Ziel hatten Rechte auf Selbstbestimmung, Beteiligung und Gleichstellung einzuklagen. Mit der Bezeichnung „Krüppel“, die in erster Linie eine Provokation war und auf eine scheinheilige Verschleierung von Diskriminierung, Aussonderung und Verbesonderung hinweisen sollte, war es möglich auch eine emanzipative Selbstbezeichnung zu initiieren. Frauen dieser Krüppelgruppen stellten fest: „Als Frauen trifft uns die patriarchale Unterdrückung ähnlich wie nichtbehinderte Frauen“. In erster Linie war jedoch der als defizitär wahrgenommene Körper Ausgangspunkt jeglicher Betrachtung, sodass sie eher als sexual- und geschlechtsloses Wesen angesprochen wurden. Boll, Degener und Hermes (1985) schreiben: „Wir Krüppelfrauen sind Frauen, die behindert sind, wir werden aber als Behinderte behandelt, die nebenbei weiblich sind.“ (Herv. im Org.) Boll, Silke; Degener, Theresia; Ewinkel, Carola; Hermes, Gisela; u.a. (19885): Geschlecht: Behindert Besonderes Merkmal: Frau. AG Spak. München